Bei einer Gegenanzeige steht Aussage gegen Aussage, das Verfahren muss gegen beide Verkehrsteilnehmer eingestellt werden.
Nur, wenn der Richter der Überzeugung ist, dass Beanzeigter und Anzeigeerstatter genauso glaubwürdig sind und deren Aussagen beide glaubhaft sind, gilt „im Zweifel für den Angeklagten“. Zumeist gilt aber: Der Anzeigeerstatter hat in sich widerspruchsfrei ausgesagt, hat kein eigenes wirtschaftliches Interesse am Ausgang des Verfahrens, hat die Unannehmlichkeiten der Anzeigeerstattung auf sich genommen, würde bei einer Falschaussage eine falsche Verdächtigung und Falschaussage vor Gericht begehen; wohingegen die gegenteilige Aussage des Beanzeigten als Schutzbehauptung abzutun ist.
I. Beispielsfall
Der Fahrer eines Porsche, in dem sich seine Frau als Beifahrerin befindet, wird auf der Autobahn am 01.09.2004 von der Polizei angehalten. Diese konfrontiert ihn mit der vor wenigen Minuten telefonisch erstatteten Strafanzeige eines VW-Bus-Fahrers. Der Porsche-Fahrer habe mit dem von ihm geführten Pkw hinter dem Fahrzeug des Anzeigeerstatters „gependelt“, um den Anzeigeerstatter zur Freigabe des von diesem befahrenen Fahrstreifens zu veranlassen. Sodann habe der Porsche-Fahrer den Anzeigeerstatter rechts überholt, sei anschließend vor diesen geschert ist und habe ohne verkehrsbedingte Notwendigkeit vor dem Anzeigeerstatter abgebremst.
Fast zwei Monate später, am 22.10.2004, werden dem Porsche-Fahrer per Postdienst sowohl ein Strafbefehl wegen versuchter Nötigung, Gefährdung des Straßenverkehrs und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen à € 50,– und Entziehung der Fahrerlaubnis für 9 Monate als auch ein Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zugestellt. Damit ist dem Porsche-Fahrer ab Kenntnis von dem Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis das Führen von Fahrzeugen verboten.
Am 05.11.2004 legt der Verteidiger des Porsche-Fahrers Einspruch gegen den Strafbefehl und Beschwerde gegen den Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ein. Begründung im wesentlichen: Da sich der Porsche-Fahrer und dessen Frau an das von dem Anzeigeerstatter geschilderte Fahrmanöver Rechtsüberholen, Einscheren nur zwei bis drei Meter vor dem VW-Bus und anschließend starkes Abbremsen ohne Grund auf jeden Fall erinnert hätten, können sowohl der Beanzeigte als auch dessen Frau mit absoluter Bestimmtheit sagen, dass dieses Fahrmanöver nicht stattgefunden hat. Bei der vorgeworfenen Tat würde es sich um das erstmalige strafrechtliche Inerscheinungtreten des Porsche-Fahrers und überhaupt um den bisher einzigen Verstoß gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften handeln. Weiter ist der Porsche-Fahrer schon deshalb ein mehr als umsichtiger Autofahrer, weil er um die existentielle Bedeutung seiner Fahrerlaubnis für ihn, seine Familie und die Familie seines einzigen Angestellten weiß.
Nach zusätzlichen Telefongesprächen des Verteidigers mit dem Vertreter des sachbearbeitenden Staatsanwalts und dem zuständigen Richter hebt dieser den Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis am 09.11.2004 auf. Seitdem darf der Porsche-Fahrer wieder Auto fahren.
In der schließlich vor dem Amtsgericht Bruchsal am 25.01.2005 stattfindenden Hauptverhandlung wird der Porsche-Fahrer wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à € 30,– und einem Fahrverbot von 3 Monaten verurteilt. Das Amtsgericht führt in den schriftlichen Urteilsgründen aus: „Dieser Sachverhalt steht fest aufgrund der Angaben des Zeugen X. […] Das Gericht hat keinerlei Anlass, an der Richtigkeit der Angaben des Zeugen X zu zweifeln. Der Zeuge hat einen ausgezeichneten Eindruck bei Gericht hinterlassen und keinerlei Belastungseifer erkennen lassen. […] Die Angaben [des Angeklagten] wurden von der Ehefrau des Angeklagten bestätigt. Das Gericht hält die Angaben der Ehefrau für eine Gefälligkeitsaussage, die falsch ist. […] Aus den bereits dargelegten Gründen folgt das Gericht den Angaben des Zeugen X in vollem Umfang.“
Gegen dieses Urteil legt die Staatsanwaltschaft Berufung ein.
In der vor dem Landgericht Karlsruhe am 30.05.2005 stattfindenden Berufungshauptverhandlung wird der Porsche-Fahrer wegen Straßenverkehrsgefährdung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen à € 30,– und einem Fahrverbot von 3 Monaten verurteilt. Die von der Staatsanwaltschaft angestrebte Entziehung der Fahrerlaubnis unterbleibt, weil inzwischen seit dem Vorfall über 9 Monate vergangen sind.
Da das Berufungsurteil rechtskräftig wurde, ist die Richtigkeit der Sachverhaltsschilderung des Anzeigenerstatters und somit die Falschheit der Angaben der Ehefrau des Porsche-Fahrers festgestellt worden. Gegen die Ehefrau des Porsche-Fahrers hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen uneidlicher Falschaussage vor Gericht eingeleitet. Das Verfahren konnte schließlich wegen geringer Schuld gegen Zahlung einer Geldauflage von € 1.000,– eingestellt werden.
Der Porsche-Fahrer ist entsetzt: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Behauptung eines einzigen Autofahrers gegen meine und die Schilderung meiner Mitfahrerin zum Verlust meines Führerscheins und somit zur Gefährdung meiner Existenz führen kann.“
II. Beispielsfall
Der Geschädigte gibt bei der Polizei an, auf der Autobahn gefahren zu sein, als er ohne ersichtlichen Grund durch den Fahrer eines Audi ausgebremst worden sei, so dass er eine Vollbremsung machen musste. Fortgesetzt sei er an der freien Weiterfahrt gehindert worden. Der Beifahrer des Geschädigten gibt bei der Polizei an, er sei erst aufmerksam geworden, als sie der Audi ausbremste.
Vorgeladen erscheint der Beschuldigte bei der Polizei und sagt aus, der Fahrer des beanzeigten Fahrzeugs zu sein, die betreffende Strecke ganz selten zu fahren und sich weder an den geschilderten Vorfall, noch dass er überhaupt zur besagten Zeit an dem betreffenden Ort gewesen sei, erinnern zu können. Auch die im Fahrzeug des Beschuldigten befindliche Lebensgefährtin kann sich an einen Vorfall der geschilderten Art nicht erinnern. Weiter sagt sie aus, so ein Verhalten weder von sich noch von ihrem Lebensgefährten zu kennen.
Die Staatsanwaltschaft beantragt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Mit amtsgerichtlichen Beschluss wird dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Der Beschuldigte sei dringend verdächtig, den Anzeigeerstatter genötigt zu haben.
In der Beschwerde gegen den Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis führt der Verteidiger an, dass das Fahrzeug des Beschuldigten ein anderes Kfz.-Kennzeichen hat als das, das von dem Anzeigeerstatter angegeben wurde. Weiter, dass die Personenbeschreibungen der Zeugen treffen nicht auf den Beschuldigten und dessen Lebensgefährtin zutreffen.
Auf die Beschwerde wird der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben. Nun ist das Gericht der Ansicht, dass die Verteidigung schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt hat, dass der Verdacht nahe liegt, dass der Beschuldigte infolge eines Zahlendrehers betreffend das Autokennzeichen des Tatfahrzeugs Opfer einer Verwechslung geworden ist.
In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht sagt der Anzeigeerstatter aus, zwar den Fahrer nicht erkannt zu haben, sich aber bezüglich des von dem Anzeigeerstatter näher beschriebenen Fahrzeugs des Angeklagten und der geschilderten Fahrmanöver ganz sicher zu sein.
Der Angeklagte wird wegen Nötigung im Straßenverkehr zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen à € 20,– verurteilt.
Auf den Rat seines Verteidigers hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung zur Vermeidung von Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahrverbot und höherer Geldstrafe den Tatvorwurf eingeräumt: „Ich habe schmerzhaft erfahren, dass es „Im Zweifel für den Angeklagten“ nicht gibt. Vor Gericht hat der Anzeigeerstatter immer Recht.“